Breadcrump- bzw. Brotkrümel-Navigation

Franz Kafka

Was fasziniert uns an ihm so sehr? Wenn es das stereotype Bild eines blassen, einsamen jungen Mannes in den düsteren Kulissen des alten Prags ist, versuchen wir es durch den echten Kafka zu ersetzen! Der war nämlich viel interessanter. Kafka war ein moderner Mensch seiner Zeit. Er war ein begeisterter Besucher der Prager Kinos und ein leidenschaftlicher Verfechter eines gesunden Lebensstils, zu dem auch Vegetarismus, Sport oder Abhärtung gehörten. Kafka zeigte sich auch aufgeschlossen gegenüber seiner Umgebung. Neben der deutschsprachigen Kultur des bürgerlichen Prags an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert beschäftigte er sich begeistert mit der traditionellen ostjüdischen Kultur der Chassiden sowie mit der modernen zionistischen Bewegung, zu der sich viele seiner Freunde bekannt hatten. Gesprochenes Tschechisch beherrschte er fast wie seine Muttersprache. Entgegen der weitverbreiteten Vorstellung reiste er regelmäßig und voller Begeisterung.

  • Franz Kafka, 1917

Es sind jedoch vor allem Kafkas Texte, die unsere anhaltende Faszination hervorrufen. Kafka schrieb wie andere atmeten: „Ich habe kein literarisches Interesse, sondern bestehe aus Literatur, ich bin nichts anderes und kann nichts anderes sein.“ In seinem kurzen Leben verfasste er tausende Seiten Tagebücher und Briefe, die wir auch nach hundert Jahren mit angehaltenem Atem und mit Erstaunen darüber lesen, wie präzise, unkonventionell und witzig sie ihr Verfasser formulierte. Kafkas literarisches Werk gehört schließlich zur absoluten Spitze der modernen Literatur, in eine Kategorie mit Joyces Odysseus, Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit oder vielleicht mit den Abenteuern des braven Soldaten Schwejk von Kafkas Landsmann und Zeitgenossen Jaroslav Hašek.

Kafka hat die Ängste und Unsicherheiten, aber auch die Tiefe des modernen Menschen wie kein anderer eingefangen. So wie für ihn Menschlichkeit und Freiheit ständig bedroht sind – man denke nur an den Roman „Der Prozess“ oder die Erzählung „Die Verwandlung“ – so entdeckt er auch deren neuen, unerwarteten Wert: Gregor Samsa, der sich auf unerklärliche Weise in „eine Art monströses Insekt“verwandelt hat, ist letztlich auch in dieser Form seiner Menschlichkeit viel näher als der ordentliche und von allen nur ausgenutzte Handlungsreisende.

Auf dem kleinen, bisher namenlosen Fleckchen, der seit dem Jahr 2000 Franz-Kafka-Platz (náměstí Franze Kafky) heißt und an dem vier Altstadtstraßen zusammenlaufen, tummeln sich in der Touristensaison regelmäßig Scharen von Ausländern. Sie blättern in Reiseführern, schauen auf ihre Handys und blicken beeindruckt auf die Gedenktafel an einem der Eckhäuser, die darüber informiert, dass hier am 3. Juli 1883 einer der einflussreichsten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts geboren wurde, der ohne Übertreibung auf der ganzen Welt bekannt ist.

Darauf deutete jedoch zunächst nichts hin. Franz Kafka wurde im mittlerweile abgerissenen Haus an der Ecke der Maiselova-Straße und der Straße U Radnice als ältestes von sechs Kindern geboren. Er war der einzige Sohn, der das Erwachsenenalter erreichte – seine Brüder Georg und Heinrich starben als einjährige Kleinkinder. Der Kaufmann Hermann Kafka rechnete nicht mit seinen Töchtern als Nachfolgerinnen an der Spitze seines Galanteriewaren-Großhandels und setzte daher alle Hoffnungen in diese Richtung auf Franz.

Dem ordnete er auch die Erziehung seines Sohnes unter, die wir aufgrund der Erinnerungen von Franz als hart und energisch wahrnehmen, die in Wirklichkeit aber nur streng und sachlich war. Und auch pragmatisch: Hermann Kafka, selbst zweisprachig, entschied, dass alle seine Kinder, vor allem Franz, eine deutsche Ausbildung erhalten würden. Er betrachtete dies als Garantie für ein erfolgreiches Berufsleben.

So besuchte Franz zunächst die Deutsche Knabenschule in der Fleischstraße (Masná ulice) Nr. 16 und anschließend das staatliche Gymnasium mit deutscher Unterrichtssprache am Altstädter Ring. Beide Schulen befanden sich in der Nähe – 1889 zog die Familie vom Rand der Judenstadt in das Haus Zur Minute (U Minuty), in unmittelbarer Nähe des Altstädter Rathauses. Herr Kafka, der Galanteriewarenhändler und seine Familie bezogen mehr als zehn Mal  verschiedene Adressen in Prag, der Aktionsradius seiner Mobilität war jedoch relativ klein.

Nach dem Gymnasium begann Franz Kafka ein Studium der Rechtswissenschaften an der deutschen Abteilung der Prager Karl-Ferdinand-Universität. Deutsch betrachtete er selbstverständlich als seine Muttersprache; es war schließlich die Sprache seiner Mutter, die aus einer deutsch-jüdischen Familie stammte. Dank des Prager Umfelds sprach er jedoch sehr gut Tschechisch, amtlich war er übrigens ein für Prag zuständiger Tscheche. „Ich habe niemals unter deutschem Volk gelebt,“ schrieb er in einem Brief an eine seiner Freundinnen. „Deutsch ist meine Muttersprache und deshalb mir natürlich, aber das Tschechische ist mir viel herzlicher.“

Schließlich nahm er auch das Judentum als Teil seiner Identität wahr, auch wenn seine religiöse Praxis nur einen formalen Charakter hatte. Er wurde eine Woche nach seiner Geburt beschnitten, trug den jüdischen Namen Amšel, besuchte jüdische Religionskurse und absolvierte die Bar Mizwa-Zeremonie. Die Synagoge, die heute nicht mehr existierende Zigeunersynagoge und später die Pinkas-Synagoge (Pinkasova synagoga) besuchte er jedoch nur auf ausdrücklichen Wunsch seines Vaters viermal im Jahr. Erst viel später begann er, sich für seine jüdischen Wurzeln zu interessieren: Als Erwachsener lernte er Hebräisch, studierte den Chassidismus, wurde mit den Ideen des Zionismus vertraut und erwog gegen Ende seines Lebens sogar, nach Palästina auszuwandern.

Nach erfolgreichem Abschluss seines Studiums wurde er 1906 zum Doktor der Rechtswissenschaften promoviert. 1907 trat er in die Versicherungsgesellschaft Assicurazioni Generali auf dem Wenzelsplatz ein (wir können uns Hermann Kafkas Enttäuschung sicher vorstellen), doch das sollte noch nicht sein Schicksal besiegeln. Ein Jahr später fand er eine Anstellung bei der Arbeiter-Unfall-Versicherung für das Königreich Böhmen in der Straße Am Graben (Na Poříčí), mit der dann sein gesamtes Berufsleben verbunden war. Dort war er bis 1922 beschäftigt, bevor er vorzeitig pensioniert wurde.

Obwohl Franz Kafka seine Arbeit bei der Unfallversicherung eigentlich mochte und von seinen Vorgesetzten als zuverlässiger Beamter bewertet wurde, beklagte er sich immer wieder darüber, dass ihn seine beruflichen Pflichten vom Schreiben abhielten. Die Literatur wurde für ihn zum Grundbedürfnis und zum höchsten Wert – obwohl er zu seinen Lebzeiten nur etwas mehr als 15 Erzählungen veröffentlichte (die berühmteste davon ist zweifellos „Die Verwandlung“). Die Anzahl seiner Veröffentlichungen verriet jedoch nichts darüber, wie produktiv der Autor wirklich war – die meisten Werke, die ihn berühmt machten, wurden erst aus seinem Nachlass veröffentlicht.

Ein weiterer Faktor, den Kafka als Bedrohung für seine kreative literarische Tätigkeit ansah, stellten Frauen dar. Bis auf eine einzige Ausnahme – seine geliebte Schwester Ottla. Er mochte sie von allen seinen Verwandten am liebsten und fand bei ihr oft Zuflucht und Ruhe für sein Schreiben – sei es in dem Haus im Goldenen Gässchen, das sie gemietet hatte, oder auf dem Bauernhof in Zürau (Siřem), wo sie für ihren Schwager arbeitete. Die anderen vier Frauen, mit denen er eine ernsthafte Beziehung hatte, verloren schließlich den Kampf mit der Literatur.

An seine erste ernsthafte Bekanntschaft, Felice Bauer, schickte er eine schwindelerregende Anzahl von Briefen, in denen es vor allem um seine Angst vor der Ehe ging, die ihn vom Schreiben ablenken würde. Zweimal verlobte er sich mit ihr und zweimal löste er die Verlobung. Seine zweite Verlobte war Julie Wohryzek, die Tochter des Verwalters der Synagoge in Vinohrady. Das Modell der Verlobung und der nachfolgenden Auflösung der Verlobung wandte Kafka auch bei ihr an. Neben der Sorge um den Freiraum zum Schreiben spielte dabei auch die verheiratete tschechische Journalistin Milena Jesenská eine Rolle, obwohl ihre Beziehung bis auf zwei persönliche Treffen ausschließlich auf Korrespondenz beruhte. Die wohl größte Liebe in Kafkas Leben, die 20 Jahre jüngere Dora Diamant, hätte der Literatur vielleicht den Rang ablaufen können. Die Tuberkulose, an der Franz am 3. Juni 1924 in ihren Armen nach einjähriger Bekanntschaft starb, konnte sie jedoch nicht besiegen.

Als Franz im Sterben lag, bat er seine Geliebte, alle seine Handschriften zu verbrennen – was die erschütterte Dora tat. Wir können nur ahnen, welche Werke die Weltliteratur dadurch verloren hat. Dieselbe Bitte richtete er auch an seinen Testamentsvollstrecker, zu dem er seinen Freund, den deutsch-jüdischen Schriftsteller Max Brod, ernannte. Brod war sich jedoch der Außergewöhnlichkeit von Kafkas Talent bewusst und statt die Manuskripte zu verbrennen, redigierte und veröffentlichte er sie. Dies sicherte Kafka Weltruhm. Der Roman Der Prozess belegte beispielsweise 1999 in der Umfrage der Zeitschrift Le Monde unter den 100 wichtigsten Büchern des 20. Jahrhunderts den 3. Platz.

Heute ist Franz Kafka eine Legende. Er ist der bedeutendste Vertreter der Prager deutschen Literatur, einer der berühmtesten Prager Juden und wohl der bekannteste in Prag geborene Schriftsteller. Wer sich für diese Persönlichkeit interessiert, kann sich an vielen Orten in Prag an das Vermächtnis Kafkas erinnern – im Franz-Kafka-Museum auf der Kleinseite, im Café Louvre oder Café Arco, die er besuchte, beim Jüdischen Museum, wo sein Denkmal steht, oder beim beweglichen Kafka-Kopf an der U-Bahn-Station Národní třída. Einen Stein kann man nach altem jüdischen Brauch auf sein Grab auf dem Neuen Jüdischen Friedhof in Žižkov legen.