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Die Prager kubistische Architektur ist weltweit einzigartig

Es ist schon mehr als 100 Jahre her, dass eine Handvoll mutiger Architekten einige bemerkenswerte Bauten in Prag schuf, deren ungewöhnliches bis kurioses Aussehen Jahr für Jahr von Vertretern der Kunstwelt wie auch der Laienöffentlichkeit bewundert wird. Der architektonische Stil, basierend auf der vollendeten und gleichzeitig spielerischen Kombination aus Prismen, Würfeln und Pyramidenformen, war von Anfang an revolutionär in seinem Raumkonzept – die einzelnen Teile der Objekte konnte man nicht nur aus einem Winkel betrachten, sondern aus vielen Winkeln gleichzeitig. Auch wenn der Kubismus in der Geschichte der Architektur nur ein episodisches Kapitel ist, in Tschechien (und besonders in seiner Hauptstadt) wurde er besonders großgeschrieben. In keinem anderen Land setzte sich die kubistische Architektur so sehr durch wie bei uns.

  • © Prague City Tourism
  • © Kunstgewerbemuseum in Prag
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Es ist ein Zeitparadoxon, dass der heute bewunderte Stil bei seiner Entstehung nicht gerade herzlich aufgenommen wurde. Der Großteil der damaligen Experten bewertete ihn kritisch als zu chaotisch, extravagant und unpraktisch. Die ältere Generation, die mit dem Historismus und dem Jugendstil aufwuchs, nahm den Kubismus (vom Lateinischen cubus – Würfel) als wildes Experiment wahr, die nachfolgende lehnte ihn als unerwünschte Abwendung von der pragmatischen Moderne ab. Eine kleine Gruppe neurerischer Künstler (zu den Bekanntesten gehörten z. B. Josef Gočár, Emil Králíček, Pavel Janák sowie Josef Chochol) gab jedoch nicht auf und entwarf und projektierte innerhalb kurzer Zeit einige einzigartige Gebäude, die bis heute die Prager Straßen zieren.

Kubistische Insel
Die meisten kubistische Häuser fanden ihren Platz im Stadtteil Vyšehrad (Prag 2), genauer am Moldauufer und in den nahegelegenen Libušina und Neklanova Straßen. Unübersehbar ist das Dreifachhaus am Rašínovo Ufer, errichtet nach dem Entwurf von Josef Chochol. Eindrucksvoll ist vor allem sein zentraler Teil, abgeschlossen mit einem polygonalen Giebel und einem hervorgehobenen dominanten Erker über dem Haupteingang. Ein völlig außergewöhnliches Beispiel des Kubismus in rein architektonischer Form ist dann die nahegelegene Kovařovic-Villa (Libušina Straße 3) aus der Werkstatt desselben Architekten. Das Etagenhaus mit weißem Kalkverputz und polygonalem Risalit, elegant in den kleinen Garten eingesetzt, schmücken originell gelöste Giebelmauern zusammengesetzt aus schiefen Flächen. Der ästhetische Eindruck der solitär stehenden Villa wird von der ursprünglichen Umzäunung des Gartens mit weiteren kubistischen Elementen vollendet. 

Die dritte und laut Experten klar beste von Chochols Realisierungen ist das fünfstöckige Zinshaus des Baumeisters Hodek an der Ecke der Straßen Neklanova und Přemyslova. Der Architekt nutzte das abschüssige Terrain sowie die Tatsache, dass die beiden Straßen hier einen spitzen Winkel bilden, was die Gesamtkomposition des Baus verstärkt, ideal. Die Fassaden bilden erneut schiefe Flächen, die kristallinen Dekore zwischen den Fenstern und Kronengesimsen werden von schlanken Eckpfeilern mit eingefügten Loggien gestützt. Ein schönes kubistisches Kronengesimse umrahmte auch das auf den ersten Blick unauffällige Zinshaus mit flacher Fassade in der Neklanova Straße 2.

Die Schwarze Muttergottes und Diamant
Der ikonische und gleichzeitig älteste Bau des tschechischen Kubismus entstand natürlich direkt im Zentrum Prags, in der Nähe des Altstädter Rings, an der Ecke von Celetná Straße und Ovocný trh. Das Haus Zur Schwarzen Muttergottes (Dům U Černé Matky Boží) nach dem Entwurf des Architekten Josef Gočár wurde 1912 anstelle eines abgerissenen Barockhauses errichtet, von dem es den Namen sowie das ursprüngliche Hauszeichen übernahm – die Barockstatue der schwarzen Madonna mit Kind, die sich an der Ecke in Höhe des 1. Stockwerks hinter goldenen Gittern befindet. Auch wenn sich gegen die Errichtung des damals modernen Objekts direkt im Zentrum der Stadt eine Welle des Widerstands erhob, das Prager Magistrat akzeptierte Gočárs Entwurf letztendlich – nach den empfohlenen Anpassungen. Und das war die richtige Entscheidung. Das Haus fügte sich über die Erwartungen hinaus sensibel in die historische Straßenbebauung ein und ist heute eine Pflichtstation aller Reiseführer und ihrer Kunden auf dem sogenannten Königsweg. 

Für Architekturliebhaber hat es noch eine unbestreitbare Devise – derzeit handelt es sich um das einzige kubistische Objekt mit zugänglichem Interieur. Und nicht nur irgendeines. Eine Exposition des Kunstgewerbemuseums in Prag (Uměleckoprůmyslové muzeum v Praze) präsentiert hier auf zwei Etagen einen Querschnitt des tschechischen Kubismus mit einem Schwerpunkt auf dem Möbel- und Designschaffen der Jahre 1911–1914 mit Überhang in die frühen Zwanzigerjahre. Im Erdgeschoss finden Sie eine Verkaufsgalerie mit dem bezeichnenden Namen Kubista und im ersten Stock kann man im Lokal Grand Café Orient sitzen – das einzige kubistische Kaffeehaus auf der Welt, in dem Sie sich plötzlich im Umfeld der Prager Créme de la Créme in der Zeit kurz vor dem Ersten Weltkrieg wiederfinden.

Das zweite kubistische Juwel im zentralen Teil der Metropole ist das Haus Diamant an der Ecke der Straßen Spálená und Lazarská in der Neustadt, dessen Urheberschaft Emil Králíček zugeschrieben wird. Das markante Gebäude wird von zwei massiven Eckerkern dominiert und seine gegliederte Fassade ist voller eindrucksvoller Details – Portale, Gesimse, Skulpturen und weiterer Ornamente.

Kubistische Perlen
Der erwähnte Emil Králíček ist auch Urheber weiterer bemerkenswerter Objekte. Es handelt sich vor allem um die einzigartige kubistische Lampe am Jungmannovo náměstí/Platz in der Neustadt, die zusammen mit dem benachbarten gotischen Tor bei der Kirche St. Maria Schnee (chrám Panny Marie Sněžné) eine märchenhaft geheimnisvolle Ecke bildet. Der Armleuchter wurde aus Kunststein erzeugt und besteht aus einer Serie aufeinanderliegender Kegelpyramiden, die von einem einfachen Kunststoffdekor bedeckt sind. Zu Králíčeks Hauptwerken gehört auch die Bethlehemskapelle in Žižkov (Betlémská kaple na Žižkově) (Prokopova 10, Prag 3 – Žižkov), die heute als Heiligtum der Evangelischen Kirche der Böhmischen Brüder (Českobratrská církev evangelická) dient. Der auf den ersten Blick unauffällige Bau, versteckt in einem Block Zinshäuser, kombiniert Elemente des Kubismus und des späten Jugendstils und sachkundigere Besucher fesselt zweifelsfrei die typisch schroffe Eleganz. Es handelt sich übrigens um eine von zwei kubistischen Kirchen auf der Welt; die zweite steht im mittelböhmischen Pečky.

Die Übersicht kubistischer „Bonbons“ wäre nicht komplett ohne eine Erwähnung der Mauern und des überwältigenden Tors des Friedhofs in Prag 8 – Ďáblice am nördlichen Rand der Metropole. Eine absolute Rarität ist dann der rondokubistische Kiosk im Vrchlický-Park in der Nähe des Hauptbahnhofs, an der Kreuzung der Straßen Bolzanova und Opletalova. Kaum jemand der Passanten weiß, dass er gerade an einem einzigartig erhaltenen hölzernen Tabak- und Drucksachenverkaufsstand aus der Ersten Republik vorbeigeht. Derzeit hat eine Wechselstube ihren Sitz in dem Objekt.

Kubistische Fortsetzung
Auch der Kubismus hatte seine Entwicklung, auch wenn der Erste Weltkrieg seinen kühnen Beginn bald beendete. In den Zwanzigerjahren des 20. Jahrhunderts kamen die Architekten mit seinem dekorativeren Ableger – dem Rondokubismus (mancherorts treffen Sie auch auf den Namen "tschechisches Art Deco“). In Prag können sich aufmerksame Besucher an drei grundlegenden in diesem spezifischen Stil errichteten Objekten ergötzen. Das erste von ihnen ist die ehemalige Legiobanka, die jetzt Teil des Palais Archa (Na Poříčí 24, Prag 1 – Neustadt) ist. Vollendete Verbindungen runder und kristalliner Elemente können auch auf den Fassaden des Palais Adria (an der Ecke Národní třída und Jungmannova Straße, Prag 1 – Neustadt) und des Gebäudes des Radiopalais (Vinohradská 40, Praha 2 – Vinohrady) bewundert werden. Beleg dafür, dass der Kubismus kein toter Stil ist, bleibt die auch heute lebendige Inspiration, etwa die Umsetzung des administrativen Gebäudes Keystone aus dem Jahr 2012 (an der Ecke der Straßen Pobřežní und Šaldova, Prag 8 – Karlín). Auch wenn der riesige gläserne „Kristall“ ohne Scham in die alte Verbauung eingekeilt ist und scharf mit den benachbarten Gebäuden kontrastiert, in die urbanistische Gesamtkonzeption passt es gut und ist eine angenehme architektonische Belebung dieses Teils der Hauptstadt. Auch Keystone hatte seine lautstarken Gegner, aber der moderne und künstlerisch geschmackvolle Entwurf erhielt letztendlich grünes Licht. Wenn es Ihnen scheint, als hätten Sie eine ähnliche Geschichte bereits einmal gehört, dann erinnern Sie sich an die analoge Peripetie, die der Architekt Josef Gočár mit „seinem“ Haus zur Schwarzen Muttergottes (Dům U Černé Matky Boží) vor genau 100 Jahren erlebte…

Weitere Informationen über die wichtigsten kubistischen Objekte in Prag finden Sie auf unserer Website prague.eu.

Autor: Jan Pomykal, Prague City Tourism