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Unabhängige Prager Kinos entführen Sie auf einen Spaziergang durch die Geschichte

Als Ende der 90-er Jahre des 20. Jahrhunderts in der Tschechischen Republik die ersten Multiplex-Kinos auftauchten, also Kinos nach amerikanischem Muster mit einer großen Anzahl an riesigen Sälen, sah es so aus, als ob die guten, alten Kinos mit ihren hölzernen Sitzen und ihrem altersschwachen, roten Vorhang für immer verschwinden würden.

  • Kino Lucerna, Foto: www.facebook.com/pg/kinolucerna
  • Foto: www.facebook.com/evald.cz
  • Foto: www.mat.cz
  • Foto: www.leroyal.cz

Eine große Anzahl hat den Ansturm nicht überlebt. U Hradeb (dt.: bei den Wällen), Palác Svět (dt.: Palais Welt), Květen (dt.: Mai), Pilotů (dt.: Piloten) oder Arbes – das sind alles Namen von Kinosälen, wo das Licht nach einer Kinovorstellung nicht mehr angehen wird. Und den wenigen alten Kinos, die ausgehalten haben, ist nichts anderes übrig geblieben, als etwas anzubieten, dass ein steriles, einheitliches Multiplex-Kino nicht schafft – die einzigartige Atmosphäre des Ortes. Es scheint, als hätte das Publikum dies verstanden. In den letzten Jahren geschieht etwas Beachtenswertes – die alten Kinos, die eingegangen sind, werden wieder belebt. Die Leute haben endlich verstanden, dass ein Kuss in einem alten Kino um vieles süßer ist, als Popcorn in einem Multiplex-Kino.

Das wahrscheinlich älteste Kino, das unentwegt in Prag funktioniert hat, ist das Kino Lucerna, „das“ klassische Kino unter allen klassischen Kinosälen. Es wurde im Jahre 1907 in Betrieb genommen. Sein Jugendstil-Saal mit reichhaltigem Stuck und Zierkronleuchtern kann sich noch an die Zeiten der Habsburg-Monarchie erinnern. Die ersten Filme sah hier die Creme-de-la-Creme der Ersten Republik, während des Zweiten Weltkrieges die nationalsozialistischen Offiziere, danach kam und ging das kommunistische Regime – und die Lucerna spielte unentwegt Filme. Man kann sich das bei einem Glas Becherovka in einer gläsernen Bar in der Lucerna Passage vorstellen, während man auf den Beginn eines Film wartet …

Ein weiteres Juwel ist das ehemalige Kino Bio Illusion aus dem Jahre 1926. Das Kino hat vor wenigen Jahren seine Tore geschlossen und es sah so aus, als dass es enden würde, doch heuer im Sommer hauchte ihm der französische Unternehmer Jean-Christophe Gramont, der abwechselnd in den USA, in Frankreich und in der Tschechischen Republik lebt, wieder Leben ein. Er entschied sich, das ehemalige Kino unter der Bezeichnung Royal als erlebnisreichen Raum zu betreiben, wo Filme gezeigt werden und wo das Personal und die Speisekarte jeweils auf den gezeigten Film abgestimmt sein werden. Tagsüber werden hier ausgesuchte Delikatessen serviert werden und die Besucher werden die Gelegenheit haben, Artefakte zu bewundern, die einst den Stars des tschechischen Films gehörten – die Handtasche von Nataša Gollová, der Hut von Adina Mandlová oder der Anzug von Svatopluk Beneš.

Für überzeugte Filmfans, Theoretiker und Forscher, die sich aus Überzeugung mit dem Film beschäftigen, gibt es das Kino Ponrepo in der Bartolomějská Straße. In einem mittelalterlichen Gebäude, wo bereits auch Ludwig van Beethoven ein Konzert gab, befindet sich der Sitz des Nationalen Filmarchiv (tsch.: Národní filmový archiv) und es werden hier auch alte Film-Gustostücke von Giganten des Films, wie z.B. Andrej Tarkovski, Elia Kazan oder Ingmar Bergmann gezeigt. In diesem Kino treffen Sie auf Filmstudenten, alte Regisseure, unauffällige Cineasten mit Brille, die noch der alten Schule entstammen, eine wertvolle Art, die hierher kommt, um einen Augenblick stiller Freude zu erleben.

Ein weiteres Kunst-Kino im Zentrum Prags ist das Světozor, welches zwei Kinosäle anbietet. Dieses Kino ist besonders, da es Wert darauf legt, dass seine Besucher wieder zurückkommen, dass sie sich hier zu Hause fühlen. Sie können sich hier also zum Beispiel einen eigenen Sessel mit Ihrem Namen zulegen, es finden hier Filmvorführungen für Schulen und für Senioren statt und es gibt den Dokumentations-Montag. Es wird hier auch das Geschäft „Terryho ponožky“ (dt.: Terrys Socken) betrieben, wo Sie unterschiedliche Film-Artefakte käuflich erwerben können, von Plakaten über Musik bis zu Gewand.

Das Kino Světozor hat zwei Schwesternbetriebe. Das erste Kino heißt Aero, für das man aus dem Stadtzentrum bis in das Industrieviertels des Stadtteils Žižkov rausfahren muss. Sie finden hier in einem Hof das Kino, welches über einen eigenen Underground-Charme verfügt und wo man in der Bar einen „Utopenec“ (= typische Wurstspezialität, eingelegte Wurst in Essig) bekommt und dann ein gezapftes Bier im Becher in den Kinosaal mitnimmt.

Der zweite Partnerbetrieb des Kino Světozor ist Bio OKO (dt.: Bio Auge), ein hippes Kino im Letna-Park. Das OKO hat sich im Laufe der Zeit von einem Kino zu einem angenehmen Platz gewandelt, wohin die Einwohner rund um den Letna-Park kommen, um sich auf ein Bier zu treffen und wo es oftmals gar nicht mehr zum Film schauen kommt. Wenn Sie die Prager künstlerische Schicht kennen lernen möchten, dann machen Sie sich Richtung OKO auf.

Zwei kleine, moderne Klubkinos sind das Evald und Mat im Stadtzentrum. Im ersten kann man nach der Filmvorstellung gut essen, das zweite verfügt über eine angenehme Cocktail-Bar.

Nahe der U-Bahnstation Florenc gab es einst im Erdgeschoss eines Bankhauses das Kino Atlas, in dem Sie den Atem des Funktionalismus verspüren – Chrom, an den Wänden Marmor und ein Mosaik des mystischen, fiktiven tschechischen Kriegshelden Pérák. Auch eine sehr angenehme Bar.

Kino Lucerna    kinolucerna.cz
Kino Ponrepo    bio-ponrepo.cz
Kino Světozor    kinosvetozor.cz
Kino Aero    kinoaero.cz
Bio OKO    biooko.net
Kino Evald    evald.cz
Kino Mat   mat.cz
Modřanský biograf   modranskybiograf.cz

Saša Blau
Journalist und Fotograf. Er lebte in London und Berlin, aber am meisten fühlt er sich zu Hause, wenn er reist. "Ich bin etwas zwischen einem Russen und einem Deutschen, ich bin in Prag geboren," sagt er über sich selbst.

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